Klavier bunt

Das Klavier mit den beigen Tasten | über eine Raucherin mit einem Klavier, das keine weißen Tasten mehr hatte

Frau L. wohnte in der Nachbarschaft. Sie hatte acht Kinder und ein Klavier. Manchmal verabredete ich mich mit M., einem der acht Kinder. Ich tat das, um das Klavier benutzen zu können.

Wenn ich das Haus betrat, konnte man vom Flur in das Wohnzimmer sehen. Frau L. saß immer auf dem Sofa. Daneben stand das Klavier. Dabei rauchte sie meistens eine Zigarette. Sie rauchte sehr viel. Die Gardinen, die Türzarge, der Heizkörper, alles hatte einen beigen Farbüberzug. Es roch nach Zigarettenrauch, kaltem Aschenbecher und einem ekligen Parfum.

Wenn Frau L. einen guten Tag hatte, dann rief sie mich in das Wohnzimmer hinein und ich durfte auf dem Klavier spielen. Mich faszinierten vor allem die tiefen und die ganz tiefen Töne, die kraftvoll den Raum füllten. Wenn Frau L. einen nicht ganz so guten Tag hatte, merkte ich das daran, dass sie mir Anweisungen gab. Nicht so laut. Schöner. Nicht so doll drücken. Ich beschäftigte mich an diesen Tagen dann lieber mehr mit M.

Im Laufe der Zeit gelang es mir, das Lied "alle meine Entchen" zu spielen. Mit zwei Fingern. Irgendwann schien es mir, dass Frau L. nicht mehr so begeistert war von meinem Klavierspiel. Sie rief mich seltener in das Wohnzimmer. Deswegen fragte ich sie immer öfters, ob ich das Klavier benutzen dürfe.

Eines Tages gab sie mir die Anweisung, vor dem Spiel die Hände auf der Toilette zu waschen, damit die Klaviertasten nicht so dreckig werden. Die Klaviertasten waren wie alles im Raum mit einem beigen Schleier überzogen. Ich fand die Anweisung nicht logisch, befolgte sie aber.

Ein paar Wochen später sagte mir Frau L., dass ich ab sofort nur noch die schwarzen Tasten benutzen dürfe. Die weißen würden zu dreckig von meinem Drücken. Als sie das sagte, sah ich das erste Mal, dass ihr Gesicht auch ganz beige war.

Frau L. fiel es tatsächlich auf, wenn ich heimlich mal eine weiße Taste betätigte. Sie wurde dann sehr energisch. Mein Lied "alle meine Entchen" konnte ich nicht mehr spielen - nur mit schwarzen Tasten.

Meine Stiefmutter schnüffelte in letzter Zeit öfters an mir, wenn ich von der Verabredung mit M. nach Hause kam. Sie fragte mich, ob ich in meinem Alter schon heimlich Zigaretten rauchen würde. Jedes Mal erklärte ich ihr, dass das der Geruch von Frau L.s Zigaretten sei. Ich hatte den Eindruck, sie glaubte mir nicht.
 
Die Verabredungen mit M. wurden seltener. Das Klavierspiel sowieso. Stiefmutter hörte irgendwann auf zu schnüffeln.