Pfefferminze

Die Pfefferminze heim bringen | die Sommer im Sperrgebiet

Lisa besuchte seit ihrem siebten Geburtstag jedes Jahr in den Sommerferien ihre Oma in Schmiedebach. Das war mit einigen Genehmigungen verbunden, da Oma im Sperrgebiet an der Grenze zur BRD wohnte.

Lisas Eltern besorgten ihr in Erfurt bei der Volkspolizei vier Wochen vor dem Besuch der Oma einen Passierschein, damit sie sich in dem Sperrgebiet aufhalten durfte. Lisa war immer sehr glücklich, wenn sie zur Oma fahren durfte. Vor allem in der Sommerferienzeit.

Bei Oma war es anders als bei ihren Eltern in Erfurt. Es roch nicht nach diesem ekligen Gemisch von Abgasen der Trabbis, dem Staub der großen Stadt. Die Luft in Schmiedebach roch nach Pflanzen. Lisa meinte auch, bei Oma eine gewisse Frische und Klarheit in der Luft zu spüren.

An heißen Tagen erlaubte Oma es ihr, alleine zum Webersloch zum Baden zu gehen. Da war Lisa schon etwas älter.

Webersloch war ein aufgegebener Schieferbruch, ein tiefes und großes in die Erde gesprengtes und gegrabenes Loch eben, in dem sich im Laufe der Jahre Wasser gesammelt hatte. Purpurblau. Kristallklar. Sie legte ihre Kleidung jedes Mal ordentlich übereinander und ging zu der Stelle, an der man nicht nur in das Wasser hineingleiten konnte, sondern auch hinterher wieder ohne Probleme rauskam, ohne sich an dem scharfkantigen Schiefer zu verletzen. Wenn sie auf dem Rücken liegend die Kühle und Frische des Wassers spürte, die ihren Körper durchströmte, sah sie in den Himmel. Und sie fragte sich manchmal, warum der Himmel nicht auch purpurblau ist. Wie das Wasser im Webersloch.

In Omas Garten wuchs Pfefferminze. Wenn Oma ihr aus den grünen Blättern nach dem Bad im Webersloch einen frischen Tee zubereitete, meinte Lisa, auch in ihrem Körper so etwas wie Frische zu spüren. Manchmal zupfte Oma mit ihr zusammen die ganz jungen Blättchen der Pfefferminze ab. Und dann zerkauten sie diese solange, bis der bittersüße Geschmack entstand, den sie meinte, bis in den Magen verfolgen zu können. Obwohl das ja eigentlich nicht sein könnte.

Als Oma starb, vermisste Lisa die Sommerferien, so wie sie jahrelang waren. Aber vor allem Oma. Das Webersloch. Die frische Pfefferminze. Eigentlich alles zusammen und wie sich das anfühlte. Manchmal trank sie Pfefferminztee, aufgebrüht aus Teebeuteln. Doch das war anders. Die Jahre kamen und die Jahre gingen. Und in den späteren Jahren, immer dann, wenn sie Pfefferminztee trank oder der Geruch des Tees in ihre Nase stieg, kam noch diese Sehnsucht hinzu.

Vor zwei Wochen war es sehr heiß in Erfurt. Die Luft war stickig und staubig. Lisa brühte sich intuitiv einen Teebeutel Pfefferminztee auf. Und wieder mal löste der Geruch des Pfefferminztees diese Sehnsucht aus. Und dann spürte sie, es ist Zeit, Omas Garten aufzusuchen.

Lisa und ihr Mann fuhren von Erfurt nach Schmiedebach. Sie wusste schon seit langem, dass Omas Haus nicht mehr existiert, irgendwann abgerissen wurde. Doch die Pfefferminze würde bestimmt noch da sein. Diese Pflanze erschien ihr immer so stark und kräftig. Sie hoffte, sie in Omas Garten zu finden. Sie nahm sich eine kleine Gartenschaufel und einen Plastikblumentopf mit.

In Schmiedebach angekommen, fuhren Lisa und ihr Mann zunächst zum Webersloch. Sie legte wie damals ihre Kleidung ordentlich übereinander. Nur diesmal auf ihre Schuhe. Sie fand noch die Einstiegsstelle von damals. Das Wasser war heute graublau. Vielleicht lag es an dem wolkenverhangenen Himmel. Auch der hatte nur wenig Blau heute. Ihr Mann schaute ihr beim Schwimmen im Wasser zu. Es fühlte sich merkwürdig an, in dem grauen Wasser zu schwimmen. Ihr Mann half ihr aus dem Wasser, nachdem ihre Hände ein paarmal an dem glitschigen Ausstieg abrutschten.

Omas Grundstück mussten sie lange suchen. Es fing an zu nieseln. Ihr Mann meinte, das mache doch alles keinen Sinn. Dann fanden sie ein paar Trümmer, moosüberwachsen. Verstreut in Omas Garten. Und tatsächlich. In diesem wilden Durcheinander und Gestrüpp von Pflanzen fand sie die Pfefferminze wieder. Voller Ehrfurcht zupfte sie ein paar Blättchen ab, kaute sie vorsichtig durch. Und da war er wieder, dieser bittersüße Geschmack und diese Frische. Und Oma. Und es fühlte sich gut an. Sie nahm die mitgebrachte Schaufel zu Hilfe, befreite eine Pfefferminzpflanze, die ihr besonders stark und kräftig erschien von anderen Pflanzen, mit denen sie sich verwoben hatte. Dann legte sie sorgfältig drumherum den Mutterboden frei, schätzte ab, wieviel von dem Boden und der Pflanze in den Blumentopf passen würde. Vorsichtig stach sie einen Kreis um die Pfefferminzpflanze aus, hob das Gewächs mit der Erde behutsam in den Blumentopf. Fast zärtlich richtete sie die Blätter danach wieder auf.

Später in Erfurt sagte ihr Mann: „Es war gut, dass wir die Pfefferminze geholt haben.“ Und Lisa nickte. Sie fühlte Ruhe in sich.

Anmerkung: dieser Text entstand auf meiner Radtour am "Grünen Band", als ich eine Frau traf, die nach ihrer Kindheit suchte.