Irgendein Rückenknickgelenk verhindert im Moment, dass ich die Distanz zwischen Händen und Füßen durch Krummbiegen meines Rückens überwinden könnte. Im Moment herrscht eine unüberwindbare Entfernung zwischen meinen Extremitäten oben und unten.
Warum mich das nervt?
Ich kann meine Zehennägel nicht mehr selbstständig schneiden. Ich komme da unten einfach nicht mehr ran. Maximal mit einer Heckenschere. Aber als Grobmotoriker wäre das unüberlegt. Vermutlich müsste ich als Folge dieses ungewöhnlichen Werkzeugeinsatzes für das Nägelschneiden an dem einen oder anderen Zeh nie wieder den zugehörigen Nagel kürzen - weil mir der Zeh abhandengekommen ist.
Mein Orthopäde hat erst in sechs Jahren einen Termin frei, um sich mal mein defektes Rückenknickgelenk anzusehen.
In sechs Jahren?
Fachkräftemangel eben.
Und so wachsen daher die Zehennägel ungezügelt und wild vor sich her. Erst werden die Socken durchbohrt, sodass ich die irgendwann weglasse, da mein Vorrat an nicht durchlöcherten Socken zu Ende geht. Dann wechsele ich mitten im Winter von den wärmenden Snowboots auf Sandalen, anschließend auf Barfußgang. Auch bei LIDL und meinem Lieblings-Italiener – anders geht’s nicht mehr.
Ich erzähle allen mich blöd anstarrenden Mitmenschen unaufgefordert, dass ich mit dem Barfußgang meine Fußmuskulatur und meinen Gleichgewichtssinn stärken würde. Schließlich möchte ich nicht den Eindruck eines Honks hinterlassen.
Nach weiteren zwei Jahren des unkontrolliertem Zehnagelwachstums stolpert die Bedienung bei meinem Lieblings-Italiener über meinen großflächigen Fußbewuchs und erleidet dadurch bedingt einen doppelten Armbruch.
So kann es nicht weitergehen. Ich rufe nochmal die Sprechstundenhilfe meines Orthopäden an. Ich schildere eindringlich, dass ich mittlerweile eine Gefahr für die Menschheit darstelle. Dass ich meine Zehennägel nicht mehr schneiden kann. Das Rückenknickgelenk müsse sofort behandelt werden. Notfall also. Mayday mayday.
Die Sprechstundenhilfe beeindruckt das nicht. Es gehe bei ihnen immer schön der Reihe nach. Sie schlägt mir vor, ich solle dann eben einen Podologen aufsuchen. Erst glaube ich, dass sie mich verarschen will. Ich habe kein Po-, Gesäß- oder Sonstwie-Problem, sondern eine Zehnagelproblem. Also wäre eine Zehologin oder irgendetwas in der Richtung geeigneter für mich.
Später googele ich nach dem Begriff Podologin und muss feststellen, dass das nur ein Kunstbegiff für eine Fußpflegerin ist. Also eine Person, die anderen Menschen an die Nägel geht, Hühneraugen entfernt und sich gerne mit Fußpilz beschäftigt.
Ich rufe eine Podologin aus den gelben Seiten eines Telefonbuchs an (sowas wird mir jedes Jahr unaufgefordert durch den Briefkastenschlitz ins Haus geschoben) und bitte sie inständig um einen Behandlungstermin. Ich erfahre, dass die aktuelle Wartezeit bei Neukunden im Moment sieben Jahre beträgt.
Sieben Jahre?
Fachkräftemangel eben.
Kurz überlege ich, ob ich nicht einen Termin bei meiner Physiotherapeutin vereinbare, die sich statt des Orthopäden oder eines Podologen um das defekte Rückenknickgelenk kümmern könnte. Sie arbeitet schwarz und hat ganz plötzlich und zufällig immer einen Termin frei, wenn man ihr mehrere tausend Euro anbietet.
Mehrere Tausend Euro?
Fachkräftemangel eben.
Doch dann fällt mir ein, dass es mit den langen Ausläufern an den Zehen mittlerweile nicht mehr möglich ist, auf dem Bauch zu liegen, um mich von ihr den Rücken therapieren zu lassen.
Einfachste aber zwingend notwendige Tätigkeiten in meinem normalen Alltag funktionieren inzwischen nicht mehr. Ich muss mittlerweile die Toilette rückwärts betreten, da ich mich in dem kleinen Raum wegen des Zehenbewuchs nicht mehr umdrehen kann. Ich mich aber richtig rum, also mit dem Hintern zuerst, auf die Keramik setzen möchte.
Den 6-Jahre-Orthopädentermin verpasse ich blöderweise, da ich an mein Smartphone, auf dem der Terminkalender gespeichert ist, plötzlich und völlig unerwartet nicht mehr rankomme. Die langen Zehennägel halten mich auf Distanz, bis mir einfällt, dass ich mich dem Gerät eben auch rückwärts gehend nähern sollte.
Den Termin bei der Podologin darf ich auf keinen Fall verpassen. Ich merke ihn mir über meinen Smartphonewecker, den Batteriewecker im Bad, die Zeitschaltuhr für den Rasensprenger und einen Knoten, den ich mir in mein Tempotaschentuch knüpfe.
Und dann ist er da. Nach sieben Jahren Wartezeit: der Podologo-Termin. Ich verlasse rückwärtsgehend meine Wohnung, stolpere über die Unmengen an leeren Kartons und Plastikverpackungen, mit denen mich diverse Lieferdienste einschließlich Amazon am Leben erhalten.
Auf der Straße vor dem Haus die typischen Reaktionen meiner Mitmenschen, die anscheinend noch nie jemanden mit soviel Fußzehnagelmaterial gesehen haben: einige fallen sofort in Ohnmacht, anderen fallen die Augen aus dem Kopf und wieder anderen fallen die losen Zähne aus ihrem offen stehenden Mund.
An jeder Straßenecke muss ich einen großen Wendekreis einlegen, um überhaupt abbiegen zu können. Manchmal ist mein Gehen blockiert, weil gerade in dem Moment ein Lieferwagen von Amazon auf einem meiner Zehnägel anhält und der Fahrer eben kurz Kartons in der Nebenstraße ausliefert.
Oder der Mitarbeiter der Müllabfuhr stellt eine leere Mülltonne nach der Mülltonnenendleerung ausgerechnet auf meinem Bewuchs ab.
Zufälle gibt es …
Rückwärtsgehend betrete ich erstmalig in meinem Leben die Praxis einer Podologin. Ich hätte Aufschreie, Panik, Entsetzen der Angestellten und Angestelltinnen erwartet. Aber ich bin wohl nicht der erste mit so extremen Fußklauen ausgestattete Neukunde.
Zwei junge Damen, die stark nach Desinfektionsmittel und leicht nach einem Rest ihres Vanilleparfüms riechen, greifen mir unter die Arme, legen mich mit dem Rücken auf eine Art Gynäkologenstuhl ab. Jedenfalls stelle ich mir so einen Untersuchungsstuhl für ein anderes der diversen Geschlechter vor. Breitbeinig liege ich da, die beiden desinfizierten Damen entwirren das Knäuel der Nägel an den Zehen, sodass zumindest ein kleiner ungehinderter Zugang für die Podologin durch die Tür des Behandlungsraums verbleibt.
Als die Podologo-Fachkraft den Raum betritt, in dem ich wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken liege und der Dinge harre, die da kommen werden, sehe ich, dass sie eine Heckenschere in der Hand hält.
"Nur für das ganz Grobe", versucht sie mich lächelnd zu beruhigen und setzt das Gartengerät tatsächlich an meinen Fußnägeln an. So, als würde sie eine meterhohe Hecke voller Gestrüpp bearbeiten.
Insofern war meine Idee vor mehren Jahren mit der Eigenbehandlung mittels Heckenschere anscheinend doch nicht so abwegig.
"Scheiß Fachkräftemangel" sage ich.
"Wem sagen Sie das" stimmt sie mir zu, legt die Heckenschere auf dem zierlichen Behandlungstischchen ab. Greift nunmehr zu einem Rasentrimmer, der in der Zimmerecke steht.
"Für das Feinere" erklärt sie mir, als ich sie ungläubig ansehe. Sie setzt sich einen Augen- und Ohrenschutz auf, bevor sie die laute Maschine einschaltet.
"Super qualifizierte Fachkräfte haben Sie hier" brülle ich durch den Lärm.
Leider kann sie das Lob im Moment nicht hören.
Ich konzentriere mich darauf, mir vor Schmerzen nicht auf die Zunge, alternativ die Lippe oder in die Fingerkuppen zu beißen. Ich habe den sehnlichsten Wunsch, im Moment keine weiteren Fachkräfte in Anspruch nehmen zu müssen.
Das war einer meiner letzten klaren Gedanken.
Wenig später wurde mir zunächst schummerig.
Anschließend schwarz vor Augen.
Das wars dann wohl.