Urinale

Nachtduft | von jemandem, der sich mehr Respekt wünscht

Rüdiger saß wieder im Keller der Disko „Underground“. Auf einem Barhocker vor den Eingängen zu den Klos. Den Barhocker hatte er sich in einem unbeobachteten Augenblick von der Theke geholt. Damit er sich auch mal ausruhen konnte, wenn er gerade nicht dabei war, die Klos zu säubern.

Er hatte vor einigen Wochen durch Beziehungen diesen Job als Klomann bekommen. Klomann. So nannten ihn jetzt alle hier in der Disko. Nicht Rüdiger. Zehn Euro die Stunde schwarz auf die Hand. Das war Rüdiger wichtig. Damit seine Ex nicht auch noch an seiner Wochenendarbeit mitverdiente.

Das Vorstellungsgespräch bei dem Chef der Disko empfand Rüdiger als Witz. Der Chef machte einen auf coolen Typ. Wollte unbedingt Chef Siggi genannt werden. Glotzte Rüdiger merkwürdig an, als er den Whisky ablehnte, den der Chef ihm zwischendurch rüberschob. Das Trinkgeld der Gäste fürs Pinkeln gehöre ihm als Chef. Damit das schon mal klar sei. Er erwarte absolute Ehrlichkeit. Es wäre auch sinnlos, ihn beim Trinkgeld zu bescheißen. Er habe jahrelange Erfahrungen, was für eine Summe da jeden Abend zusammenkommen muss. Das könne er anhand der Getränke hochrechnen, die versoffen wurden. Was oben reingeschüttet wird, muss eben unten auch wieder rauskommen. Ein bellendes Lachen des Chefs. Eine stinkende Alkohol-Nikotinwolke, die Rüdiger dabei ins Gesicht schlug.

Über die menschlichen Gerüche und den Gestank hatte sich Rüdiger gar keine Gedanken gemacht, als er sich für den Job bewarb. Der erste Abend war der Horror für ihn. Der beißende Geruch der Pisse aus dem Männerbereich. Im Frauenbereich dieses unangenehm schwere Luftgemisch aus Parfüm, Deo, Haarspray. Was auch immer. Früh morgens eine Frau, die das Speiwaschbecken vollkotzte. Rüdiger konnte den ganzen Abend den Würgereiz kaum unterdrücken.

Für die weiteren Abende hatte Rüdiger vorgesorgt. In dem kleinen Vorratsraum zwischen Männer- und Frauenbereich schob er sich vor Dienstbeginn immer zwei Wattebäuschen in die zwei Nasenlöcher. Die er vorher vorsichtig mit Lavendelöl befeuchtet hatte. Aber nur mit ganz wenig Öl. Und nur so wenig Watte, dass er noch durch die Nase atmen konnte. Es roch danach alles ganz entspannt nach Lavendel. Nicht nach Pisse, Kotze oder sonst was.

Das Säubern der Klos war für Rüdiger kein Problem. Mit den langen, dicken Gummihandschuhen war er vor dem Gröbsten geschützt. Manchmal nervte es ihn, dass die Gäste nicht abspülten, das Toilettenpapier auf dem Boden rumflog. Die Klobrillen bepisst oder beschissen waren. Vor allem bei den Frauen. Wobei er von seiner Ex wusste, dass es dafür einen nachvollziehbaren Grund gab. Seine Ex hatte sich auch nie auf fremde Toilettenbrillen gesetzt. Um sich keine Blasenentzündung zu holen. Dann könne Rüdiger das mit dem Sex nämlich erstmal vergessen. Rüdiger hatte zumindest Verständnis für die Verschmutzungen. Obwohl er es mit der Zeit trotzdem als Respektlosigkeit empfand.

Rüdiger merkte, dass das mit dem Respekt anscheinend ein empfindlicher Punkt bei ihm war. Wenn er die Gäste freundlich begrüßte und die nicht zurückgrüßten. Oder durch ihn hindurch starrten. Es war jedes Mal ein Stich in der Magengegend. Dieser Gast, der 5 Cent Trinkgeld auf den Teller legte. Rüdiger hinter dem Gast herlief. Ihm die 5 Cent mit der Bemerkung zurückgab, er hätte wohl was vergessen. Das tat schon weh, als der Gast dann widerlich grinsend die Münze mit der flachen Hand einfach durch die Gegend schleuderte.

Rüdiger nahm den Pissegeruch bei den Männern nicht wahr. Dank der lavendelierten Wattebäuschen in seiner Nase. Nichtsdestotrotz konnte er natürlich erkennen, dass sich unter den Urinalen ständig neue Pfützen bildeten. Die mussten zügig entfernt werden. Damit die ätzende Pisse nicht die Fliesen angreift. Und vor allem nichts stinkt. Da die marktgängigen Reinigungsmittel mit Duftstoffen versetzt waren und Rüdiger sich vorstellen konnte, dass andere Gäste diesen künstlichen Geruch auch nicht so toll finden, hatte er sich im Internet schlau gemacht. In einem Wischeimer rührte er sich jeden Abend eine Mischung aus Essig und Wasser zusammen. Mit einem Bodenwischer und dieser Essig-Wasser-Mischung feudelte er dann unter den Urinalen her. Immer gerade unter denen, die gerade nicht benutzt wurden.

Rüdiger prokelte auch die ausgespuckten Kaugummis aus den sich nach unten verengenden Abläufen der Urinale heraus. Mit den Gummihandschuhen und einer selbst gebastelten Spezialzange war das für ihn kein Problem. Doch manchmal hatte er den Eindruck, dass man ihn dabei gar nicht wahrnimmt. Wenn es ein wenig voller wurde, und Rüdiger sich wieder mal bemühte, ein glitschiges Kaugummi rauszufischen, konnte es sein, dass in dem Moment gerade ein Gast zu dem daneben liegenden Urinal ging. Anfing zu pinkeln. Im Licht der Deckenstrahler konnte Rüdiger dann den Sprühnebel erkennen, der ihn in diesen Momenten traf. Je öfter er das erlebte, desto mehr wünschte er sich mehr Respekt. Er machte schließlich gute Arbeit. Und er war ein Mann, der auch Gefühle hatte.

Rüdiger merkte, dass sich da in ihm etwas zusammenbraute. Dass seine Stimmung schlechter wurde. Die Arbeit als solches war nicht das Problem. Eher, dass anscheinend die Gäste seine Arbeit nicht wertschätzten. Ihn nicht beachteten. Furzten, wenn er unmittelbar daneben stand. Die Verschmutzungen im Frauenbereich waren für ihn ok. Das war wohl seinem Frauenversteher-Gen geschuldet. Für die Rücksichtslosigkeit bei den Männern hatte er nach mehreren Wochen kein Verständnis mehr. Um dieses eklige Herausprokeln der Kaugummis und anderer Fremdkörper zu verhindern, stattete er zunächst alle Urinale mit Urinalsieben aus. Auf eigene Kosten. So musste Rüdiger nur noch die Fremdkörper vom Sieb aufsammeln. Statt mit seiner Spezialzange ganz unten in der Abflussverengung rumzuwurschteln.

Neben dem Kauf der Urinalsiebe hatte sich Rüdiger einen Zettel in zehnfacher Kopie aus dem Internet ausgedruckt. Weil er zehn Urinale zu betreuen hatte. Den Text auf den Zetteln fand er witzig: „Tritt näher ran, er ist kürzer als du denkst“. Mit Tesafilm befestigte er jeweils einen Zettel mittig über jeweils einem Urinal.

Die Installation der Urinalsiebe war schon eine gute Sache, wie Rüdiger fand. Für ihn selbst. Für seine Selbstachtung. Für mehr Respekt. Die Zettel bewirkten aber keine Veränderung bei der Pfützenbildung, wie Rüdiger frustriert feststellte. Manchmal druckte er neue Zettel aus. Weil irgendein Idiot einen Zettel abgerissen hatte. Aber nicht sorgfältig genug. Rüdiger musste dann erst die Reste des Tesafilms von den hellen Wandfliesen abknibbeln.

Viele Wochenenden gingen dahin. Es passierte eigentlich nichts wirklich Aufregendes. Einmal eine Frau, die ihn betrunken zutextete, als er gerade mal eine Pause auf seinem Barhocker machte. Einmal ein Typ, der ihm Drogen verkaufen wollte. Weil Rüdiger so ein scheiß Gesicht mache. Rüdiger bemerkte zwischendurch immer öfter diese Stiche in seinem Magen. Wenn er das Gefühl hatte, dass da nicht so viel Respekt war. Aber er machte einen guten Job.

An einem dieser langen Freitagabende sah er plötzlich, dass Chef Siggi die Treppe herunterkam. Rüdiger fiel in dem Moment auf, dass der Chef noch nie hier unten war. Anscheinend verfügte der Chef über eine eigene Toilette. Neben dem Chef lief ein ziemlich rausgeputzter Lackaffe. Edelklamotten, lackierte Haare, vermutlich sauteuere Schuhe. Aber die Unterhose seit einer Woche nicht gewechselt. Das war dann das Bild, das bei Rüdiger innerlich vorbeizog. Jedes Mal, wenn er solche Typen sah. Rüdiger konnte diese Typen nicht leiden. Die seiner Meinung nach ihre Nase zu hoch hielten. Die meilenweit gegen den Wind nach irgendeinem wahrscheinlich auch sehr teuren Deo oder Parfüm stanken. Er empfand das manchmal als regelrecht übergriffig. Fast wie Körperverletzung.

Rüdiger spürte, dass irgendein Mist anrollte. Der Lackaffe war etwas aufgedreht. Der Kopf hochrot angelaufen. Entweder wegen seiner Aufregung. Oder der zu eng geschnürten Krawatte. Der Chef und der Lackaffe zogen an Rüdiger vorbei. Ohne ihn zu grüßen oder zu beachten. Der Lackaffe zeigte auf die Zettel über den Urinalen. Rüdiger hörte aus seinem Mund bruchstückhaft etwas von „respektlos“ und „beleidigend“.

Der Chef drehte sich zu Rüdiger um, stürzte leicht sauer auf ihn zu und fauchte ihn an:

„Mach sofort die Zettel weg, du Penner. Du beleidigst meine Gäste.“

Danach spuckte er einmal kräftig Schleim auf den Fußboden. Den Boden, den Rüdiger vor wenigen Minuten noch so sorgfältig gewischt hatte.

„Du brauchst ab morgen nicht mehr wiederzukommen.“

Mit einem verkrampften Gesichtsausdruck zog der Chef ab. Im Schlepptau der Lackaffe. Dessen Gesicht merkwürdigerweise nicht mehr hochrot war. Jetzt nur noch leicht rot. Rüdiger fühlte wieder diesen Stich in seinem Magen. Heftiger als sonst. Dann auch das Gefühl, dass er nicht richtig Luft bekommt.

Rüdiger holte sich aus dem Vorratsraum einen schwarzen Edding, den er mal einem jungen Schnösel weggenommen hatte. Kurz bevor dieser die Wand über dem Waschbecken bekritzeln konnte. Rüdiger ging zu dem Rotzfleck, den der Chef auf den Fußboden gesetzt hatte. Er malte mit dem Edding einen Kringel um die glibbernde Flüssigkeit. Einen Pfeil auf den Kreis zielend. Daneben die Worte: „Arschloch Siggi – Sie haben was verloren.“  Kurz überlegte Rüdiger, was er mit den Urinalsieben machen sollte, die er auf eigene Kosten bei Amazon gekauft hatte. Er beließ sie in den Urinalen, weil er mit einer so hohen Anzahl von Urinalsieben privat nichts anfangen konnte.

Rüdiger fing an zu rechnen. Ausgaben von 28,81€ für die Urinalsiebe plus 30€ Stundenlohn für den angefangenen Arbeitsabend machen zusammen 58,81€. Er rundete den Betrag auf 60€ auf. Er war der Meinung, dass er auch mal Trinkgeld verdient habe. Aus der Toilettenkasse entnahm er dann zwei 10-Euro-Scheine und den Rest in Münzen. Mehr stehe ihm nicht zu, dachte er. Er war schon immer eher einer von den Korrekten und Ehrlichen.

Rüdiger zog sich seine Jacke im Vorratsraum an. Entleerte die halb ausgetrunkene Colaflasche im Waschbecken des Männerbereiches. Spülte noch einmal mit Wasser nach.

Dann ging er zum Ausgang der Disko. Vorbei an dem bulligen Typen, der ihn fragend ansah. Rüdiger wünschte ihm noch einen schönen Abend.

Vor der Disko zog Rüdiger als erstes die lavendelierten Wattebäuschen aus seinen Nasenlöchern. Entsorgte sie in einem an einem Laternenpfahl hängenden Mülleimer.

Dann atmete er tief ein. Und alles wieder aus. Bei jedem weiteren Atemzug genoss er den klaren Duft der Nacht.

Später fiel ihm auf, dass das Stechen im Magen weg war. 

Rüdiger lächelte. Es war gut.