Der Umzug aus Rüdigers Reihenhaus in die Seniorenresidenz „60-plus-club“ war für August vorgesehen. Rüdiger war froh, dass seine Tochter Lena das Haus mit dem ganzen Inventar übernehmen würde. Bis auf diesen einen Karton im Keller.
Das fiel Rüdiger irgendwann kurz nach einem Mittagsschlaf siedend heiß ein. Dass er diesen Karton sicherstellen müsste. Er staunte, dass ihm dieser Karton überhaupt noch einfiel – und dann ausgerechnet jetzt: wie ein Geistesblitz nach einem Mittagsschlaf. Aber manchmal hatte er eben auch seine guten Tage.
Im Abstellkeller räumte sich Rüdiger den Weg frei bis zu der Ecke, wo er ein paar Archivkartons mit „alten und wichtigen“ Unterlagen aufbewahrte. Er schob verstaubte Reisekoffer und alte Plastiksäcke beiseite, um an die Kartons zu gelangen. Als Rüdiger den mit „privat“ beschrifteten Karton öffnete, schlug ihm der muffige Geruch vieler vergessener Jahre entgegen.
Zwei dicke Leitz-Ordner mit handgeschriebenen Briefen blätterte er oberflächlich durch. Katja, Horst, Annette – an die meisten Namen und die Menschen erinnerte er sich nicht mehr. Obwohl er vor 50 Jahren anscheinend in intensivem Briefkontakt mit ihnen stand. Neben den Ordnern lagen dünne Schreibhefte, wie aus Schulzeiten. Sie enthielten Tagebucheinträge – Reisen, Begegnungen, Orte, alles fein säuberlich datiert. Auf manchen Seiten klebten Erinnerungsstücke: Fahrkarten, Zeitungsausschnitte, Restaurantrechnungen, Streckenpläne, Bleistiftskizzen.
Es nervte ihn, dass sein Kopf ihn immer öfter im Stich ließ. Nicht nur die weit zurückliegenden Ereignisse entglitten ihm, sondern auch einfachste Dinge des Alltags. Nach dem Kochen kehrte er oft mehrfach in die Küche zurück, um zu überprüfen, ob der Elektroherd wirklich ausgeschaltet war. Er ging in den Keller und wusste unten angekommen nicht mehr, was er dort eigentlich wollte. Lena hatte ihn überzeugt, dass er im „60-plus-club“ besser aufgehoben sei. Mittlerweile glaubte er es selbst.
Marokko?
Rüdiger blätterte in einem der Hefte. Er überflog seine handgekritzelten Notizen – Orte, Begegnungen, Ankünfte, Abfahrten. Auf einer Seite klebte ein durchsichtiges Plastiktütchen, darin eingewickelt ein Papiertaschentuch. Irritiert öffnete er die Plastikfolie. Ein intensiver Geruch von Patchouli schlug ihm entgegen. Voll warmer Sonne. Dem süßen Geruch weiblicher Haut. Weit weg und doch vertraut. Es wirkte wie ein Trigger.
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Ich hatte das Ziel meiner langen Zugreise, von Deutschland nach Casablanca, erreicht. Die vergangenen Tage bewegte ich mich wie im Rausch durch das Getümmel, die Gerüche, die Geräusche dieser Stadt. Casablanca: dieser Name allein klang wie ein Versprechen. Ich ließ mich treiben. Verlief mich in der Medina mit ihrem unübersichtlichen Geflecht der kleinen Straßen, den vielen Verkaufsständen, Transportkarren, Menschen. Ich schlürfte heißen Tee. Aufgebrüht mit frischen Pfefferminzblättern. Mit viel zu viel Zucker verrührt. Ich genoss das süße Gebäck aus Mandeln, Pistazien. Mal mit Datteln vermischt. Manchmal mit Sesam überzogen. Getrocknete Feigen, frische Orangen, leuchtende Granatäpfel. Ich probierte alles, was man mir anbot.
Menschen, die sich lautstark unterhielten, in Arabisch oder Französisch. Die schimpften, lachten, wild gestikulierten. Vor der drückenden Hitze und der flirrenden Sonne Schutz suchten im Schatten der Hauseingänge. Vor sich hin dösten. Manchmal Fliegen aus ihren Gesichtern verscheuchten.
Morgen würde ich wieder den Zug Richtung Deutschland nehmen. Ich war müde. Nicht von der Menge der Eindrücke, sondern von der Vorstellung, in einer Woche wieder in einem klimatisierten Büro zu sitzen und Zahlenkolonnen auszuwerten. Ich wollte lieber dieses Staunen. Mit allen Sinnen dieses Leben aufsaugen.
Ich war müde. Lehnte mich an die Steinmauer neben einer Bushaltestelle. Es war ein schwüler Nachmittag. Die stickige Luft fast zu schwer zum Atmen. Im Minutentakt hielten Busse an. Spuckten Scharen von Menschen aus. Die mich in ihrer Hast meistens nicht bemerkten. Oder wenn doch – mich aus Augenwinkeln neugierig und flüchtig betrachteten. Die kleinen Mädchen, die meistens kichernd an mir vorbeigingen. Über den viel zu großen Mann lachten, mit bleicher Haut und viel zu langen blonden Haaren in dieser Gegend.
Dann stieg **sie** aus. Unsere Blicke trafen sich. Wir sahen uns diese paar Millisekunden zu lange in die Augen. Wir hielten beide dem Blick stand. Mit dieser Neugier auf mehr. Sie zögerte ein wenig. Kam auf mich zu.
„Parlez vous français?“
„Sprechen Sie Französisch?“
Ich bejahte, obwohl ich kaum Französisch sprechen konnte. Trotzdem unterhielten wir uns. Lachten über die entstehenden Missverständnisse. Versuchten, mit Gestik und Mimik die fehlenden Worte zu ersetzen. Schlängelten uns durch das Gewirr der vielen Menschen.
Als wir in der Boulevard Mohammed an einem Café vorbeikamen, lud ich sie zu einem Getränk ein. Wir bestellten uns beide einen mit Eiswürfeln aufgefüllten frisch gepressten Orangensaft. Der beim ersten Schluck wie schneidendes Feuer seinen Weg in meinen Magen fand.
Sie hatte dunkelbraune Augen, Sommersprossen, für dieses Land ungewöhnlich helle Haut und lange blonde Haare, die sich kaum bewegten. Wie luftiger goldengelartiger Draht ihren Kopf umhüllten. Goldringe glänzten an mehreren ihrer feingliedrigen Finger im tiefgelben Licht der Abendsonne, die durch das Fenster in das Café schien. Ihren schlanken Hals schmückten mehrere Goldketten. Manche mit meerblauen oder feuerroten Schmucksteinen dekoriert.
Wir lachten. Wir redeten über das, was einem spontan einfällt, wenn man sich das erste Mal begegnet. Mit meinen wenigen französischen Brocken. Ihrem fröhlichen französischem Singsang. Ein wenig aufgekratzt. In den kurzen Pausen zwischendurch intensiver Blickkontakt. Ein Suchen nach dem Unbekannten. Eine tiefe Sehnsucht. Eine Antwort auf nicht gestellte Fragen.
Die Abendsonne verschwand langsam aus dem Fenster des Cafés. Ich deutete an, dass es Zeit für mich wird, zur Unterkunft zurückzukehren. Ein kurzes Schweigen. Ihr tiefer, fragender Blick. Viel zu lange.
„Ich würde dich gerne küssen. Ich meine – so richtig.“ sagte sie. „Aber hier im Café? In diesem Land geht das nicht.“
Sie streifte einen der Goldringe von ihren Fingern ab. Versuchte ihn, auf meinen rechten kleinen Finger zu stecken. Reflexartig zog ich meine Hände zurück.
„Ich mache mich morgen wieder auf den Weg nach Deutschland“, entgegnete ich. Kühl, zusammenhanglos.
„Das macht nichts. Wir können uns erst mal schreiben.“
Sie riss zwei Zettel von einem Schreibblock ab, den sie aus ihrem genähten, grasgrün und braunrot gestreiftem, mit vielen glitzernden Steinchen geschmückten Stoffbeutel zog. Wir tauschten unsere Adressen aus.
Sie stand von ihrem Stuhl auf. Beugte sich zu mir herunter. Gab mir einen fast nicht spürbaren Wangenkuss. Ein intensiver, warmer Geruch eines mir unbekannten Parfüms umnebelte mich.
„Was ist das für ein Parfüm?“ fragte ich sie wie berauscht.
Sie suchte etwas in ihrem Umhängebeutel. Zog ein Päckchen Papiertaschentücher heraus. Entnahm alle bis auf eines der durchsichtigen Plastikverpackung. Sie kramte ein kleines braunes Fläschchen aus ihrer Tasche hervor. Öffnete den Verschluss. Träufelte ein, zwei Tropfen auf das Papiertaschentuch. Verschloss die Plastiktüte.
„Wenn du in Deutschland bist und daran riechst, wirst du dich immer an mich erinnern. Es ist Patchouli“, flüsterte sie und drückte mir das eingewickelte Papiertaschentuch in die Hand.
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Rüdiger presste das Papiertaschentuch unter seine Nase. Zog den Duft von Patchouli immer tiefer in sich hinein. Immer und immer wieder. Er erinnerte sich genauestens. Was für ein Moment.
Er blickte in das Tagebuchheft und las einen eingeklebten Zettel.
Die Adresse der Frau aus Casablanca. Amina ihr Vorname. Rue 36, no. 88, Casablanca, Marokko, der Wohnort. Von ihr, mit einer zarten, verspielten Handschrift geschrieben.
Rüdiger ging zu seinem Notebook. Rief Google-Maps auf. Gab die Adresse ein. Sie existierte. Immer noch.
Plötzlich diese Klarheit im Kopf.
Rüdiger googelte nach Flugverbindungen Richtung Casablanca.
Der „60-plus-club“ – nichts als ein schäbiger Name. Für eine Zeit, die noch warten konnte.