So ab April oder Mai geht es los. Obwohl - seit dem Klimawandel jetzt schon im März oder April. „Zartes Grün“ steckt vorsichtig den Kopf hervor aus den Fugen der Gartenwege, den Fugen der Gartenterrasse, den Fugen des Carports. Eigentlich aus jeder Fuge.
Pflastersteinbesitzer sagen nie „zartes Grün“ zu den Pflanzen. Sagen auch nicht Pflanzen zu den Pflanzen. Eher Unkraut - oder wer etwas abgeklärter wirken will: Wildkräuter.
Jedenfalls ab März wird dann das gesamte Arsenal der Vernichtung dieses zarten Fugengrüns herausgeholt: Fingerspitzen, Fingernägel, Fugenkratzer, Fugenbürsten, Haarnadeln, Schraubenzieher, Unkrautstecher, Taschenmesser, Küchenmesser, Hochdruckreiniger, Abflammgerät, kochendes Wasser, Essig, Essigessenz, Unkrautvernichtungsmittel.
Die ganz Harten zeigen dem „zarten Grün“, wer der Chef ist. Sie investieren einmalig Zeit in das Verschließen der Fugen mit Silikon. Riecht danach eine Zeitlang nach Essig. Dann ist aber endlich Schluss mit dem „zarten Grün“.
Alles das ging mir wie ein Blitz durch den Kopf, als ich mit dem Rad auf die Hauptstraße von Bad Colberg in Thüringen einbog. Der Name Hauptstraße suggeriert einen großen belebten Ort mit viel Verkehr. Aber wie sollte das funktionieren in einem Ort, der nur 140 Einwohner hat? Der Ort hat eigentlich nur drei Straßen. Eben die Hauptstraße. Dann eine Sackgasse, die auch Sackgasse heißt. Und die Parkallee, die vom Namen etwas aus dem Rahmen fällt. Macht sich für eine Kurklinik eben besser an einer Parkallee als an einer Hauptstraße zu residieren.
Jedenfalls sah ich schon von weitem ein hockendes Weib auf der Hauptstraße, das auf allen Vieren auf dem Boden rumkrabbelte. Als ich das erste Mal an der recht alten krabbelnden Frau vorbeifuhr, sah ich, wie sie mit einer Art Küchenmesser „zartes Grün“ aus den Fugen einer historischen Pflasterung rauskratzte. Wackersteine mit riesigen Fugen dazwischen. Also mit viel zu entfernendem „zarten Grün“. Nach dreißig Sekunden war das Ende der Hauptstraße erreicht. Ich hatte meine Unterkunft gefunden. Rangerhof. Oder sollte man das amerikanisch aussprechen: „Räindscherhof“? Leider war es noch eine halbe Stunde vor 16:30 Uhr – vorher war es mir strikt untersagt, an der Tür zu klingeln.
Also fuhr ich die Hauptstraße, die man besser in Dorfstraße umtaufen sollte, wieder zurück zu der krabbelnden Frau auf den klobigen Pflastersteinen. Ich hatte eine halbe Stunde Zeit und wollte die Zeit sinnvoll nutzen, um z.B. die krabbelnde Frau mal zum Nachdenken zu bringen über die Sinnlosigkeit ihres Tuns.
„Guten Tag .Was machen Sie da?“ fragte ich die Frau, die mich daraufhin ungläubig ansah.
„Na ja, sehen Sie das denn nicht? Ich entferne das Unkraut aus den Fugen.“ sagte sie und begab sich dann unter leichtem Stöhnen vom Vierfüßler- zunächst in den knienden und dann abschließend in den zweibeinigen Stand. Drückte ihren Rücken durch.
„Ja macht das denn Sinn?“ Mit dieser Frage versuchte ich sie anzuregen, einmal über das nachzudenken, was sie sich da antat. Ohne Knieschoner. Ohne Arbeitshandschuhe. Mit offensichtlich schmerzendem Rücken. Mit einem einfachen Küchenschälmesser.
„Ja natürlich.“ entgegnete sie kurz und knapp.
Ich war irritiert und versuchte es daraufhin mit ein paar logischen Einwänden: „Bei den breiten Fugen und der riesigen Fläche – wenn man an der einen Seite fertig ist, muss man da an der anderen Seite nicht schon wieder anfangen?“
„Ja ja, das ist auch gut so.“ antwortete sie mit leichtem Grinsen.
Mittlerweile zweifelte ich an ihrem Verstand – oder an meinem. Dann schob ich eine Frage hinterher, die sie ein wenig aus der Reserve locken sollte: „Und warum tun Sie sich das alles an? So ganz jung sind Sie – Entschuldigung – Ihr Rücken ja auch nicht mehr.“
Das schien seine Wirkung entfaltet zu haben, denn sie redete ab dem Zeitpunkt nicht mehr nur in Dreiwortsätzen. Sie zeigte mit dem Finger auf ein Gebäude, dass über einen modern gepflasterten Weg erreichbar etwas abseits der Hauptstraße lag.
„Das ist die hiesige Touristinformation. Ich bin an der Stadt mit einem 450€-Job angestellt. Ich soll mich darum kümmern, dass die Wege hier überall schön ordentlich sind. Ich brauche das Geld, weil meine Rente hinten und vorne nicht reicht. Und im Winter mache ich dann den Schneedienst. Also ist es gut, wenn das Unkraut zwischen den Fugen wächst und im Winter viel Schnee liegt. Und es ist wichtig, dass mich die Leute da in der Touristinformation möglichst jeden Tag sehen, wieviel Arbeit das alles ist.“
Dann kam sie etwas näher auf mich zu, deutete auf einen Plastiksack, der etwas abseits auf dem Weg lag und sprach zu mir: „Aber so ganz blöd bin ich ja auch nicht. In den nächsten drei Wochen macht die Touristinformation zu, weil die Büromenschen in die Sommerpause gehen. Vom Winterdienst bewahre ich mir immer einen Sack Streusalz auf und nachher, wenn die aus dem Büro alle weg sind, streue ich Salz in die Fugen der Pflasterung. Das hält das Unkraut etwas zurück. Dann mache ich nämlich auch mal Urlaub.“
Ich musste innerlich schmunzeln, sah auf meiner Uhr, dass ich den Rangerhof aufsuchen könnte. Die Checkin-Zeit war erreicht. Obwohl der Begriff „Check-In“ in dieser Gegend etwas deplatziert wirkte. Ich wünschte ihr noch einen schönen Tag – und einen schönen Urlaub vom Unkrautentfernen.
Als ich später den Rangerhof verließ und an der Touristinformation vorbeischaute, sah ich tatsächlich Streusalz im Frühsommer. Sehr sorgfältig nur auf den Fugen verteilt.