Island. Oder wenigstens London und Paris. Da wollte Bernd einfach mal hin. Unkompliziert in einen Flieger steigen. Fremde Länder erkunden, die Menschen kennenlernen. Auf eigene Faust. Aber das ging nicht. Stattdessen Reisen in das sogenannte befreundete sozialistische Ausland.
Es kotzte ihn an. Er durfte es nicht laut sagen. Aber im Inneren hatte er dieses Gefühl. Die DDR war für ihn einfach nur ein riesiger Knast.
Als der Plan in ihm reifte, die DDR zu verlassen, erzählte er es genau vier Menschen. Seinen Eltern. Seinem älteren Bruder, der auch in Berlin lebte. Einem Arbeitskollegen, der gleichzeitig auch sein bester Freund war.
Ungefähr acht Wochen später klingelte es an der Haustür. Bernd war alleine zuhause, seine Eltern auf der Arbeit. Zwei Mitarbeiter der Staatssicherheit verhafteten ihn wegen des Verdachts auf Republikflucht. Setzten ihn in eine Art Lieferwagen. Die Fenster von innen verdunkelt, fuhren sie mit ihm durch Berlin. Er konnte nicht nachvollziehen, wohin sie ihn brachten. Eine knappe Stunde später stoppte der Lieferwagen. Die Türen des Lieferwagens wurden von außen geöffnet. Bernd stieg aus dem Wagen aus. Stand in einer großen Halle ohne Fenster. Er folgte einem Mann über eine schmale Treppe. Erst in einen Raum, in dem sie ihn gründlich durchsuchten. Dann in den Vernehmungsraum.
Bernd hatte während der gesamten Fahrt überlegt, wer ihn bei der Stasi angeschwärzt haben könnte. Er konnte es sich nicht erklären. Er hatte zu allen, denen er von der geplanten Flucht erzählt hatte, größtes Vertrauen. Später war die Vorstellung für ihn einfacher zu ertragen, dass sie vielleicht das Telefon abgehört hatten. Als er wiedermal mit seinem Bruder telefonierte. Um die Flucht zu planen.
Die nächsten Tage waren die Hölle für Bernd. Man gewährte ihm keinen Kontakt nach draußen. Keine Telefonate mit seinen Eltern, seinem Bruder. Keine Besuche. Die einzigen Menschen, die er sah, waren die immer gleichen Männer. Die ihn verhörten. Stundenlang. Tags und auch manchmal nachts. Dass es tagsüber war, konnte er nur wegen des anderen Lichts ableiten. Das durch die dicken Glasbausteine in das Vernehmungszimmer hineinschimmerte. Manchmal passierte auch mehre Tage gar nichts. Er saß einfach nur in seiner Zelle. Hatte keine Beschäftigungsmöglichkeiten. Er spürte dann manchmal schon den Wunsch in sich, dass die Verhöre endlich weitergehen. Wehrte sich gegen diese Gedanken. Versuchte zu erkennen, mit welchen Tricks man ihn zu Aussagen verführen wollte.
Jetzt saß er also in einem Knast in einem Knast. Aber das dachte er nur.
Dann hatten sie ihn. Bernd machte während eines Fragenmarathons Aussagen über seinen Arbeitskollegen. Dass dieser staatseigenes Baumaterial für sein Privathaus abgezweigt habe. Bernd merkte in dem Moment, dass sie ihn hatten. Es war einfach so aus ihm herausgerutscht. Er hatte den Trick nicht rechtzeitig bemerkt. Vielleicht war er auch einfach nur zu müde und unkonzentriert gewesen.
Am nächsten Tag öffnete sich wiedermal die Tür seiner Zelle. Man sagte zu ihm, dass er in den Tigerkäfig dürfe. Wenn er wolle. Er müsse aber nicht. Bernd wurde von zwei Männern über die immer menschenleeren Flure um mehrere Ecken und Treppen rauf und runter in eine Art Zelle unter freiem Himmel geführt. Eine Betonfläche von vier mal fünf Metern. Rundherum mit vier Meter hohen grau verputzten Mauern. Im Boden ein Wasserabfluss. Nach oben hin mit einem Draht abgesichert.
Hinter Bernd schlug die massive Eisentür zum Tigerkäfig zu. Er blinzelte zum Himmel. Seine Augen mussten sich erst wieder an das grelle Tageslicht gewöhnen. Er atmete die feuchte, aber trotzdem frische Luft in dieser Ummauerung ein. Er sah in den Himmel. Ein Hauch von Blau. Erst später bemerkte er die zwei schwerbewaffneten Aufseher. Die ihn von oben bewachten.
Er wusste, warum er sich jetzt im Tigerkäfig aufhalten durfte. Es ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Die Aussagen waren gemacht. Er hatte sogar unterschrieben. Das mit dem Baumaterial war ja auch nur ein Nebenkriegsschauplatz. Er hatte ja auch nichts Falsches gesagt. Aber im Grunde war es doch jetzt gut so.
In den nächsten Tagen durfte Bernd immer mal wieder für kurze Zeit in den Tigerkäfig. Mal sah er am Himmel ein Flugzeug fliegen. Hinter dem sich langsam ein breiter Kondensstreifen bildete. An einem anderen Tag huschte für einen kurzen Moment ein Vogel über den viereckig verdrahteten Himmel. Bernd wunderte sich, wie schnell der Vogel aus dem Sichtfeld verschwunden war. Im Vergleich zu dem Flugzeug ein paar Tage vorher.
An einem dieser Momente im Tigerkäfig musste Bernd husten. Hörte unmittelbar danach ein Husten. Anscheinend aus einem der vielleicht neben ihm befindlichen Tigerkäfige. Er spürte, er war nicht alleine. Es fühlte sich gut an.
Die Sonne schien. Er spürte einen Hauch von Wind. Von oben, durch den Draht des Tigerkäfigs.
Bernd hustete. Diesmal bewusst. Sofort hustete nebenan jemand.
Bernd überlegte, ob denn der Tigerkäfig der Knast im Knast im Knast ist. Doch das Bild passte nicht. Bernd atmete tief durch.
Der Tigerkäfig tat ihm gut.
Anmerkung: Die „Tigerkäfige“ befanden sich im Stasigefängnis Hohenschönhausen (Berlin).