„Die Wohnung ist perfekt!“, murmelte Bernward und starrte gebannt auf den Bildschirm. Endlich. Wochenlang hatte er sich durch Inserate auf Monteurportalen gequält – immer auf der Suche nach einem speziellen Objekt, von dem aus er seinen letzten großen Versuch durchführen wollte. Jetzt war sie da: eine Dachgeschosswohnung mitten in Münster an der Hafenstraße. Acht Wochen frei für Monteure. Erfüllte endlich das unverzichtbare Kriterium seiner langwierigen Suche: nebenan eine Metallwerkstatt. Das Herzstück seines Plans.
„Das ist wie ein Sechser im Lotto“, flüsterte er und lehnte sich entspannt auf seinem Bürostuhl zurück. Ausgerechnet Münster, sein Wohnort! Zufälle wie dieser waren für ihn keine Zufälle. Es waren Gelegenheiten, die er nie ungenutzt ließ. Ein kurzer Blick auf die Uhr.
„Los jetzt! Keine Zeit für Sentimentalitäten.“
Er griff nach seinem Handy, tauschte seine SIM-Karte gegen eine alte, anonyme aus Mexiko aus und erstellte eine Wegwerf-E-Mail-Adresse:
Ein paar Tage später landete die Bestätigungsmail in seinem Postfach. Bernward grinste zufrieden.
„Schlüsselbox ... Code 12345? Kreativer geht’s ja wohl nicht.“
Er zahlte die Miete für den gesamten Zeitraum bar bei der Postbank ein – diskret, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Bernward hatte eine glanzvolle Karriere im Chemiebereich hinter sich. Nach seinem Studium der Chemie begann er als Laborleiter in einem Basler Chemieunternehmen, stieg schnell auf und übernahm schließlich eine Führungsposition. Anfangs war er begeistert: Verantwortung, ein hohes Gehalt, der Dienstwagen, eine Sekretärin, die prestigeträchtigen Titel – all das schien ihm wie die Erfüllung eines Traums. Doch mit den Jahren verblasste die Faszination. Die immer gleichen Meetings, in denen er Manager-Buzzwords jonglieren musste, die endlosen PowerPoint-Präsentationen und die ständigen Reorganisationen fraßen ihn auf. Seine Leidenschaft für Chemie, die ihn einst angetrieben hatte, verblasste zusehends.
Doch die Sehnsucht blieb. Immer öfter erinnerte er sich an die Tage seiner Jugend, als er mit seinem damaligen Schulfreund Dietmar verrückte Experimente im Keller des Elternhauses durchführte. Sie hatten einfache Chemie-Baukästen. Doch die Ergebnisse ihrer Versuche waren für die beiden Jungen spektakulär: kleine Explosionen, Rauchwolken und Gerüche, die die ganze Nachbarschaft in Aufruhr versetzten.
Als Bernward in den Ruhestand ging und nach Münster zurückkehrte, fasste er einen Plan. Er wollte diesen alten Zauber wiederbeleben. Es sollte nicht nur eine Erinnerung an die Vergangenheit werden, sondern sein letzter großer Versuch – ein Experiment, das all seine chemischen Kenntnisse vereinen würde. Es sollte knallen, stinken und ein Stück weit gefährlich aussehen. Doch es musste auch so raffiniert sein, dass niemand ihn damit in Verbindung bringen konnte.
Am 1. Juli machte Bernward sich mit dem Rad und vielen Tupperdosen auf den Weg zur angemieteten Wohnung an der Hafenstraße. Die Hitze des Hochsommers war unerträglich. Die Sonne brannte vom stahlblauen Himmel. In Münster-Handorf bog Bernward kurz in den Boniburger Wald ab und suchte sich eine versteckte Stelle hinter dicken Buchen. Dort bereitete er sich etwas vor: Er zog sich eine schwarze Langhaarperücke über und setzte eine überdimensionale Hornbrille auf. Beides lag seit vielen Jahren in der Karnevalskiste. Als er sich im Handydisplay betrachtete, nickte er zufrieden.
„Das wird reichen.“
In der Hafenstraße angekommen, öffnete er die Schlüsselbox und betrat das Haus. Ein säuerlicher Gestank aus Schimmel, kaltem Rauch und altem Abfluss schlug ihm entgegen – wie eine Faust ins Gesicht.
„Wahnsinn ... liegt hier etwa jemand tot in einer Ecke?“
Mit einer Mischung aus Ekel und Entschlossenheit rannte er die knarzende Holztreppe hoch. Er bemerkte, dass die Perücke auf seiner Glatze unangenehm kratzte und zu dieser Jahreszeit übermäßig wärmte. Die ersten Schweißperlen tropften von seinem Kopf direkt auf den Fußboden.
Die Dachgeschosswohnung war genau, wie er sie sich vorgestellt hatte: schmuddelig, aber perfekt gelegen. Der Blick aus dem Schlafzimmerfenster bombastisch: Der Innenhof lag direkt unter ihm, die Werkstatttüren zu der Metallwerkstatt standen offen. Der Klang von Flex, Sägen und Schleifgeräten erfüllte die Luft. Es war wie Musik in seinen Ohren.
In den darauffolgenden Wochen beobachtete Bernward den Betrieb vom Schlafzimmerfenster aus. Jeden Freitagabend, kurz vor Feierabend, kehrte ein Mitarbeiter den Metallstaub und die Späne aus der Werkstatt zusammen und spülte sie anschließend durch das zentrale Abflussgitter im Innenhof. Die Routine war verlässlich – perfekt für Bernwards Plan. Er würde für seinen letzten Versuch chemische Reaktionen in dem zentralen Abfluss auslösen, indem er seine gut vorbereiteten Chemikalien über die Toilette der Wohnung in die gemeinsame Kanalisation einleitete. Der chemische Prozess würde durch die metallischen Abfälle aus der Werkstatt ausgelöst. Die sommerliche Hitze das Ganze beschleunigen.
In der Wohnung bereitete er alles akribisch vor: Chemikalien, sorgfältig ausgesucht und in handlichen Tupperdosen verpackt. Alles diskret im letzten Jahr in verschiedenen Städten gekauft und immer bar bezahlt.
„Es sollte ja kein Verdacht entstehen“, sagte er zu sich selbst und nickte zufrieden.
Am vierten Freitag war es soweit. Der Mitarbeiter war mit dem Fegen fertig und auf dem Weg, den Wasserschlauch zu holen. Bernwards Signal.
„Jetzt oder nie!“
Er kippte die sorgfältig abgewogenen Chemikalien in die Toilette der Dachgeschosswohnung, übergoss sie mit kochendem Wasser und spülte gründlich nach. Dann verließ er die Wohnung und schlich sich durch einen Durchgang von der Hafenstraße in den Innenhof, um sein Werk zu beobachten.
Zunächst passierte nichts. Minuten später ein leises Zischen. Gefolgt von einem ohrenbetäubenden Knall. Aus dem Abfluss schoss eine schillernde Rauchwolke, die wie ein lebendiger Regenbogen pulsierte und die Luft mit einem stechenden Geruch erfüllte. Die folgende Lichtshow beeindruckte Bernward. Der Gestank überwältigend: eine Mischung aus faulen Eiern, verbranntem Metall und gärender Ananas. Die Werkstattmitarbeiter stürzten ins Freie, hielten sich die Nasen zu, flüchteten zurück ins Gebäude, knallten die Türen hinter sich zu. Minuten später ertönten Sirenen. Ein Feuerwehrwagen donnerte in den Hof.
„Mist“, murmelte Bernward und zog sich unauffällig zurück unter die neugierigen Gaffer, die angelockt vom Knall, vereinzelt im Durchgang standen.
Die Feuerwehrleute sprangen aus dem Wagen, allen voran ein stämmiger Mann mit graumelierten Haaren. Er lief auf die Gaffer zu und rief:
„Alle Zuschauer weg hier! Das ist lebensgefährlich!“
Bernward stockte der Atem: Das war doch Dietmar. Sichtlich gealtert. Aber unverkennbar. Sein alter Schulfreund Dietmar, der Chemie genauso geliebt hatte wie er – bis sich ihre Wege getrennt hatten. Dietmar anscheinend bei der Feuerwehr gelandet. Bernward bei einem Chemieunternehmen. Und jetzt, nach all den Jahren, standen sie bei seinem letzten Versuch wieder Seite an Seite.
Bernward war wie gelähmt. „Er wird mich nicht erkennen“, redete er sich ein. „Die Perücke. Die Brille. Alles sicher.“
Dietmar erstarrte, als er Bernward erblickte. Ein Moment der Stille.
„Bernward? Das ist jetzt nicht wahr. Was zum Teufel machst du hier? Wieso trägst du diese beschissene Perücke und diese Hornbrille? Mit dem Outfit hast du doch damals auf der Karnevalsfeier bei Renate schon alle genervt.“
Bernward schluckte, der Schweiß lief ihm strömend unter der Perücke über die Gläser seiner Hornbrille.
„Dietmar! Ich... äh, das ist nicht, wonach es aussieht!“
„Warum riecht es hier wie in der Hölle, und warum bist du verkleidet? Warst du das? Hast du hier Chemie gespielt wie wir zusammen früher? Verarbeitest du hier dein Jugendtrauma?“
Bernward öffnete den Mund, aber er fand keine Worte.
In diesem Moment spürte Bernward, dass sein letzter Versuch aus dem Ruder lief. Die Perücke kratzte wie verrückt die Schädeldecke auf, der Gestank brannte in seiner Nase. Aber das war anscheinend noch nicht das Ende.
Aus dem Abflussgitter entwich ein bedrohliches Zischen, diesmal begleitet von einem seltsamen Gluckern. Dann ein leises Rumpeln, das langsam an Intensität zunahm. Dietmar blickte alarmiert zum Abfluss.
„Alle zurück!“, rief er. Die Feuerwehrleute rannten zum Hofeingang. Die Gaffer waren angesichts des üblen Gestanks schon vorher geflüchtet.
Bernward blieb in Schockstarre stehen. Er wusste, was jetzt kommen würde – oder glaubte es zumindest. Sein letzter Versuch war noch nicht zu Ende.
Vor seinen Augen wurde es plötzlich schwarz. Das Letzte, was er noch bewusst wahrnahm, war diese beschissene Perücke. Die schweißnass von seiner Glatze rutschte und neben ihm auf die Pflasterung des Innenhofs klatschte.
Dann verschluckte ihn die Dunkelheit.
Fotos generiert von: www.flux1.ai (KI-gestützter Bildgenerator, entwickelt von Black Forest Labs, einem Start-up mit Sitz in Freiburg im Breisgau, Deutschland. !!!)
